Workshop
Freitag früh, die Augen noch nicht richtig offen, und schon sollte ich mich an diesem Workshop konzentrieren. Mein Magen knurrt und in der Nase kitzelt's. Egal, meine ganze Aufmerksamkeit gilt dem Redner. Jedesmal, wenn er beim Sprechen die Zunge bewegt, verursacht sie dabei ein klickendes, nervtötendes Geräusch. Ich bin dem Redner dankbar dafür, denn es verhindert, dass ich einschlafe.
Immer wieder verstecke ich mit meinen Händen ein herzhaftes Gähnen. Ich kann es ebensowenig unterdrücken wie das Kitzeln in meiner Nase. Hatschi… und jetzt sind bestimmt alle wach. Beim Gähnen fällt mein interessierter Blick auf den Notausgang. Der rennende Mann im grünen Schild lacht mich hämisch an. Oder lacht er mich aus? Und er rennt und rennt und rennt… und kommt doch nicht vom Fleck. Genau wie der Redner, obwohl er dauernd vor seinem Publikum hin- und herläuft. Der weisse Mann auf dem grünen Schild ist zu bedauern; der arme Kerl verbringt sein ganzes Dasein rennend über dem Notausgang in diesem Raum und kann niemals in die Freiheit entfliehen. Nur meine Uhrzeiger wollen heute nicht rennen.
Zwischendurch stelle ich das Philosophieren ein und leihe meine Ohren dem Redner. Seine leise, monotone Stimme will nicht so recht zu seinen enthusiastischen und dynamischen Worten passen. Er erzählt Vielversprechendes von Strategien, Massnahmen, Leaderrollen, Weiterentwicklung, Verbesserung, Qualität und Quantität. WOW! Wir kämpfen, wir wollen nach vorn, wir wollen mehr, mehr, mehr…
Von Zeit zu Zeit fällt sogar ein Witz, den alle verstehen. Doch nur die Abteilungsleiter lachen, ihre Position verpflichtet sie dazu.
Die Pause kündigt sich an. Der Redner stellt die Frage nach noch offenen Fragen. Ein sicheres Zeichen also, dass Kaffee und Gipfeli nicht mehr weit sind. Auf seine Frage folgt, wie üblich, lautes Schweigen.
Nach der Pause dürfen wir endlich alle aktiv werden in Form von schweisstreibenden Gruppenarbeiten. Die Chance für jeden, sich zu profilieren. Dazu braucht man aber nicht unbedingt zu wissen, worum es geht. Der oberste Chef hat nämlich schon Unterlagen von seinen Vorstellungen vorbereitet. Um ihm zu gefallen, muss man lediglich seine Vorstellungen mit eigenen Worten formulieren. Das funktioniert immer, garantiert.
Die anschliessende Präsentation der Gruppenarbeiten verläuft erfolgreich. Es wird bald klar, dass die vorhergehenden Reden grossen Eindruck gemacht haben. Erstaunlich, was da an Verbesserungsvorschlägen ans gedämpfte Sitzungszimmerlicht kommt. Es fallen so bedeutungsvolle Worte wie Professionalität - Prioritäten - Optimierung - Potential - Effizienz - spezifisch - Philosophie - Basis - Strategie - Volumen. Es sind alles schöne Ausdrücke, die von der geistigen Grösse dieser Mitarbeiter zeugen. Man merkt: Ein hochdynamisches Unternehmen, wo alle wichtig sind, vom Last Underdog of Space Care bis hin zum First Guru of Management. Eine grosse, glückliche Familie.
Mit leuchtenden, verklärten Augen verlassen wir diesen Raum, den Kopf voller Visionen von einer erfolgreichen Zukunft. Erfreut darüber, einen Vormittag sinnvoll verbracht zu haben und viel Interessantes gelernt zu haben, sind wir alle erfüllt von positiven Gedanken und Gefühlen und können es kaum erwarten, das Gelernte, die Philosophien, Strategien und Visionen umzusetzen. Schade, dass das Wochenende vor der Tür steht, jetzt müssen wir noch zwei unerträglich lange Tage damit warten.